„Ich habe auch viele, zu viele Ideen, was ich in meiner Freizeit machen könnte, aber null Motivation, etwas davon anzupacken.“ Er sagte es mit resigniertem Blick, wie einer der aufgegeben und abgeschlossen hat. Seine Stimme klang müde. Seine Augen blickten erloschen unter geschwollenen, schweren Lidern.
„Du könntest dich sozial engagieren“, schlug sie vor, in der Hoffnung, ihm damit soetwas wie einen Rettungsring zuzuwerfen. „In der Kirche zum Beispiel“, fügte sie hinzu.
„Die Kirche?“ Er schnaubte und warnte sie: „Ich mach jetzt einen faulen Spruch: Jesus ist für mich gestorben.“
Obwohl er seinen Scherz vorher angekündigt hatte, dauerte es ein paar Sekunden, bis sie begriff, dass er das Gegenteil von dem meinte, was der Satz auf den ersten Blick aussagte und dass er sich gleichzeitig mit seinem brillanten Sarkasmus über ehemalige Freunde lustig machte.
„Ja, ich habe meinen Glauben verloren, keine Hoffnung mehr, auch da“, antwortete er auf ihren entsetzten Blick.
Ihre Gedanken überschlugen sich. Wie war er so weit gekommen? Das konnte doch nicht sein! Er hatte doch immer so überzeugt gewirkt. Er war doch derjenige gewesen, der seine Kinder religiöser erziehen wollte – im Nachhinein zumindest.
Er musste in einer schweren Depression stecken. Es war vollkommen logisch, dass er jetzt nichts mit dem Glauben anfangen konnte. Sie wusste genau, wie sich das anfühlte. Man geht in den Sonntagsgottesdienst, singt mit, lächelt, aber jedes der Lieder verhöhnt einen: Wo ist er jetzt, dein Gott? Jetzt, wo es dir am verschissensten geht, wo du kein Licht am Ende des Tunnels siehst, wo schwere Gewichte an deinem Herzen hängen, die dich langsam und unaufhaltsam in den Sumpf ziehen? Jetzt, wo du ihn am nötigsten hättest? Wo ist er, von dem sie sagen, dass er jeden Mangel ausfüllt? Der Allmächtige müsste doch nur mit dem Finger schnipsen, und alles wäre wieder gut, dir wäre wieder leicht ums Herz und du wüsstest genau, wozu du hier bist!
Sie kannte diese bitteren Gedanken genau. Und sie wusste, wie lange es gedauert hatte, aus diesem Sumpf wieder herauszukommen.
Depression ist wirklich etwas, bei dem einem der Glaube nicht weiterhilft. Jedenfalls nicht jener Glaube, der im Stil einer Selbsthilfegruppe oder eines schlauen Selbstverbesserungsbuches einem irgendwelche lapidaren Ratschläge um die Ohren haut. „Du musst nur x und y machen und darüber beten.“
Wenn man in diesem Stadium ist, hat man das alles längst ausprobiert. Genützt hat es nichts. Im Gegenteil hat es alles schlimmer gemacht.
Man fühlt sich als der totale Versager, als Christ zudem von Gott im Stich gelassen, und das tut unglaublich weh. Für alle anderen ist dieser Jesus gestorben, für dich nicht, denkst du. Wann du zum letzten Mal etwas gespürt hast, weisst du nicht mehr, wahrscheinlich hast du eh alles falsch gemacht. Mit raumgreifenden Schritten hat dich das Selbstmitleid eingeholt, mit eisernem Griff umschliesst es dein kalt gewordenes Herz. Jedes Gebet, jeder gutgemeinte Zuspruch verhöhnt dich. Irgendwann resignierst du und kommst zum Schluss, dass es diesen Gott nicht gibt, und weisst nicht, dass du damit Recht hast.
Diesen Gott, wie ihn die bibeltreuen Christen meinen verstanden zu haben, und wie du meinst, ihn aus ihren Schilderungen zu kennen, gibt es wirklich nicht. Er ist ein Gedankenkonstrukt, eine Auslegeordnung an Bibelstellen, sorgfältig miteinander verwoben, einzelne Fäden, die farblich nicht passen, sorgsam herausgezupft und ausgelassen, Fragen und Ungereimtheiten mit einem schnell gesagten „Gottes Gedanken sind höher, als unsere“ abgetan. Wenn du deine Fragen äusserst, wirst du zum Gebetsanliegen, und während sie mit gesenkten Köpfen, vor Anstrengung gerunzelten Stirnen und zusammengekniffenen Augen das tun, was sie beten nennen, schüttelst du innerlich den Kopf und denkst: „Ihr wisst nichts!“
Du fragst dich die ganze Zeit, ob du ein richtiger Christ bist, dir das alles nur eingebildet hast und warum Jesus dein Gebet, du mögest seinen Tod am Kreuz endlich verstehen und er könnte dein Inneres so umkrempeln, wie das ihre, nicht erhört. Er müsste doch ein Interesse daran haben, dass die Bekehrung in deinem Herzen ankommt, mit allem Drum und Dran. Muslimen ist er auch erschienen, warum dir nicht?
„Such weiter“, ermunterte sie ihn, „Es gibt ihn schon.“
„Kennst du ihn denn?“
„Jetzt wird es schwierig“, sagte sie, „Ich weiss es nämlich nicht. Ich denke, wir können Gott, oder wie auch immer du das nennst, nicht erfassen, beschreiben, in Worte runterbrechen. Er ist zu anders, zu umfassend. Er ist alles. Er ist. Und auch das ist irgendwie falsch gesagt. Und auch wieder nicht.“
Er schwieg nachdenklich. „Und Jesus?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiss es nicht“, gab sie zu. Er ist auch alles. Und bei ihm stimmt der Satz ‚Er ist‘, weil er wirklich ein Mensch war, der gelebt hat. Aber ich glaube nicht, dass man glauben muss, er sei für unsere Schuld gestorben, um erlöst zu werden. Ich weiss nicht mal, ob man überhaupt erlöst werden muss.“
„Wie kannst du das so sagen? Woher weisst du das?“
„Ich habe es gewagt, andere Sachen zu lesen, die nicht Christen geschrieben haben. Worte von Menschen, die ebenfalls meinen, Gott erfasst zu haben. Sie haben genau dasselbe versucht: dieses unfassbare, unendliche, umfassende Wesen irgendwie in Worte und Geschichten runterzubrechen.
Es passiert ja nicht auf dieser Ebene, und es ist nicht der Verstand, der eine Erkenntnis hat oder eine Gottesbegegnung erlebt. Es ist der Geist. Aber der Geist hat keine Sprache.
Wenn Sprache das Medium ist, mit dem wir Gott erfassen, dann ist es immer nur eine Übersetzung. Und bei Übersetzungen passieren Fehler. Sie sind ungenauer, als der Originaltext.“
„Du hast dich also mit anderen Religionen befasst?“
„Ein bisschen. Aber nicht nur: Ich habe auch Menschen zugehört, die in der christlichen Kultur grossgeworden sind, aber den christlichen Glauben nicht teilen oder ihn nur als Kulturgut betrachten.“
„Früher hast du doch immer ‚christliche Bücher‘ verschlungen, also welche aus dem freikirklichen Sektor, und dann behauptet, Gott hätte dich geführt, das Buch zu lesen. War das nicht so“
„Ja. Und es ist immer noch so. Ich fühle mich genau gleich geführt, ob das Buch ‚christlich‘ ist, oder nicht, spielt keine Rolle.“
„Und in diesen anderen Büchern hast du jetzt also Gott gefunden?“ Mit einem zwischen Hoffnung und Skepsis schwankenden Blick hob er den Kopf.
„Nein. Ich versuche ihn zu lesen“, antwortete sie. Wenn meine Theorie stimmt, kann man die Gemeinsamkeiten dieser Aussagen zusammenfassen und dann müsste das ein vollständigeres Bild von Gott geben, falls es sowas überhaupt gibt. Manchmal weiss ich durch die Aussage eines Nichtchristen, der über Spiritualität redet, plötzlich, wie eine Geschichte in der Bibel gemeint ist.
Vielleicht haben wir mit der Bibel einfach die deutlichsten Aussagen über Gott und dieses Bild hat ein paar Schattierungen mehr, aber in den anderen Religionen und Überzeugungen findet man ihn ebenso.“
Jetzt war ihr Gespräch ganz woanders gelandet. Eigentlich hätte sie ihn darauf hinweisen wollen, dass er in einer schweren Depression steckte und ihn bitten, dringend etwas dagegen zu unternehmen, bevor es zu spät wäre. Was, wenn ihm das niemand sagen würde? Und was, wenn er nichts damit anfangen könnte, es abstreiten würde?
Andere Menschen können den Stein nicht von deinem Herzen wegnehmen, das wusste sie aus eigener Erfahrung. Du selbst kannst es auch nicht. Aber du kannst hinsehen, das beim Namen nennen, es zugeben. Du kannst in Gedanken dein Herz in beide Hände nehmen und es diesem unbekannten Wesen Gott hinhalten: „Schau, so sieht’s aus und ich kann es nicht ändern.“ Du musst nicht mal darum bitten, dass er es ändern möge. Du musst es nicht mal ändern wollen. Es ist nur dieser winzige Schritt, immer und immer wieder. Hundertmal am Tag, manchmal.